Monica Petzal
The Dresden Project, Indelible Marks – Unauslöschliche Spuren
Das Dresden Project ist eine kontinuierliche Beschäftigung mit meiner Familie mütterlicherseits. Durch das produktive Medium des Drucks werden dabei ein gewaltiges Familienarchiv, zeitgenössische historische Dokumente sowie meine eigenen persönlichen Erfahrungen erforscht. Die Drucke wurden nach langen Überlegungen in Werkstätten in Dresden und London gemacht. Zur Bereicherung und Klärung des Arbeitsprozesses fand Anfang 2013 ein einmonatiger Aufenthalt in Dresden statt, bei dem auch in der Grafikwerkstatt Dresden gedruckt wurde. In den Zeitraum dieses Besuchs fiel die jährliche Gedenkfeier zur Zerstörung der Stadt am 13. Februar 1945.
Meine Beziehung zu Dresden hat ein sehr tragisches Element. Als meine Mutter und ihre Eltern Anfang der zwanziger Jahre in die Stadt zogen, bot sie ihnen Stabilität, Wohlstand und eine unglaubliche kulturelle Vielfalt. Ab 1933 wurden sie dort unterdrückt und ausgegrenzt und Mitte 1936 zur Ausreise gezwungen. Schließlich wurde dieses Dresden von dem Land zerstört, das ihnen Zuflucht gewährte und ein Leben ermöglichte, in dem sie nicht verfolgt wurden.
Selbst 2013 fühlt man sich als Engländerin und als Jüdin in Dresden nicht ganz wohl, zumal nicht, wenn man familiäre Wurzeln dort hat. In einer Stadt, die stark von einer Erinnerungskultur geprägt ist, spürt man ein beständiges Unbehagen und stößt überall auf die stets sichtbaren Spuren nicht nur des Nationalsozialismus und der Zerstörung von „Elbflorenz“, sondern auch der rigiden DDR-Jahre und der ständigen Präsenz der extremen Rechten. Dresdens weltweiter Status als Symbol für die Zerstörungsgewalt des Krieges wurde politisch immer entsprechend den Zwecken der jeweils herrschenden Nachkriegsmacht manipuliert. Durch die vielfache Idealisierung der Stadt, die sich im kollektiven und kulturellen Gedächtnis eingebrannt hat, ist „eine Stadt voller Gespenster“ entstanden.
Meine Mutter, Hannalore Isakowitz, wurde 1915 in Tilsit geboren, einer Kleinstadt im damaligen Ostpreußen und heutigen Russland. Ihr Vater, Erich Max Isakowitz, der als Arzt und Zahnarzt arbeitete, war 1891 in Königsberg zur Welt gekommen. Er hatte an der Universität Königsberg und München studiert, sein Studium allerdings wegen eines längeren Militärdienstes im Ersten Weltkrieg unterbrochen. Ihre Mutter, Sofie Berlowitz, 1893 in Eydtkuhnen geboren, war die Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmannes und brachte eine beträchtliche Aussteuer in die Ehe ein. Sie besaß nicht nur Stil, sondern hatte auch eine gute Erziehung genossen, sprach Englisch und kannte England von Reisen; das trug später dazu bei, dass die Familie Deutschland verlassen konnte.
1924 zogen Erich und Sofie gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter, die allgemein Lore hieß, von Tilsit nach Dresden, wo bereits Verwandte lebten. Der Umzug sollte zum einen Erichs Karriere befördern, zum anderen wollte die Familie so dem wachsenden Antisemitismus in Ostpreußen entkommen. Dresden war damals eine florierende, kosmopolitische Großstadt, ein anerkanntes Zentrum für Gelehrte, eine Stadt der Künste, der Architektur und Musik.
Erich und Sofie schlossen sich der kultivierten und kreativen jüdischen Gemeinde in Dresden an, zu der rund fünftausend Mitglieder zählten. Wie die anderen Juden gingen sie in die Semper-Synagoge neben der berühmten Brühlschen Terrasse, betrachteten sich aber als assimiliert und insbesondere als Deutsche. Zu ihrem Freundeskreis gehörten viele Künstler, allen voran der Maler Conrad Felixmüller, seine Frau Londa und ihre Söhne. Zwischen 1930 und 1936 kaufte Erich mehrere Werke von Felixmüller oder nahm sie statt Geld als Bezahlung an, unter anderem ein Ölporträt von Sofie, Zeichnungen von sich und Lore sowie „Das Malerleben“, ein Zyklus von sechzehn Lithographien.
Zunächst zog die Familie in Dresden mehrfach um, ebenso wie Erich mit seiner Praxis, doch ab 1930 lebten sie in einer geräumigen Wohnung im ersten Stock in der Werderstraße 44 im Stadtteil Plauen. Das Haus lag an einem Platz, in dessen Mitte die Lukas-Kirche stand, ein imposanter Neorenaissance-Bau und ein wichtiger Orientierungspunkt in Dresden. Erichs Praxis lag ganz in der Nähe in der Königsberger Straße 25. Ab 1926 besuchte Lore die Deutsche Oberschule in Plauen, das heutige Gymnasium Dresden Plauen, wo noch detaillierte Berichte über ihre Schulzeit liegen, u.a. Anwesenheitslisten, Zeugnisse, ihr Abitur im Frühjahr 1933 und ihr Abschlusszeugnis. Lore selbst besaß Photoalben mit Bildern von Schulausflügen und den Auslandsreisen mit ihren Eltern.
Am 10. August 1933 wird Lore erstmals in Victor Klemperers Tagebuch erwähnt (erschienen unter dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten). „Stepun schickte mir ein Fräulein Isakowitz zur Berufsberatung zu. Sie hat Ostern ihr Abitur gemacht, Vater jüdischer Zahnarzt. Sie möchte Dolmetscherin werden. Quomodo? Das Institut in Mannheim ist nach Heidelberg verlegt, Gutkind entfernt – wohin unbekannt –, Nichtarier haben keinen Zutritt. Sie will versuchen, hier ein, zwei Semester zu studieren. Fraglich, ob man sie zulässt.“
Zu der Zeit war Klemperer an der Technischen Universität Dresden Professor für Literatur mit Schwerpunkt französische Aufklärung. Obwohl er 1912 zum Protestantismus übergetreten war, sich der deutschen Kultur eng verbunden fühlte und mit einer arischen Frau verheiratet war, wurde das Leben für ihn nach der Machtergreifung Anfang 1933 immer schwieriger. Seine Tagebücher, die er von 1933 bis 1959 führte, stellen ein unschätzbares historisches und gesellschaftliches Dokument des Lebens eines Juden unter dem Nationalsozialismus und später in der DDR dar. Zunächst war er der Lehrer meiner Mutter, später wurden er und seine Frau Patienten meines Großvaters und im Lauf der Zeit auch gute Freunde der Familie Isakowitz; in seinen Tagebüchern finden sich Details ihres Alltags und der Verabredungen in den Jahren 1933 bis 1936.
Von offiziellen Dokumenten und Klemperers Tagebüchern abgesehen weiß ich wenig über das Leben meiner Mutter und ihrer Eltern in der Zeit zwischen dem Aufstieg der NSdAP und ihrer Ausreise 1936 nach London. Viele ihrer Freunde und Verwandten emigrierten bereits 1933, unter anderem Sofies Bruder, der mit seiner Familie nach Palästina auswanderte. Das Leben wurde für alle Familienmitglieder zunehmend schwieriger. Lore durfte an keiner deutschen Universität studieren und besuchte deshalb für mehrere Monate die Universität Montpellier in Frankreich, wo sie ein Diplom ablegte. Erich wurde untersagt, Arier zu behandeln, und finanziell unter Druck gesetzt, seine florierende Praxis an einen Nicht-Juden zu verkaufen.
1935 fuhr Sofie nach London und handelte mit immensem Geschick aus, dass Erich nicht nur eingeladen, sondern auch für ihn gebürgt wurde, damit er mit seiner Familie nach England emigrieren und dort als Zahnarzt arbeiten konnte. Daraufhin genehmigte das Nazi-Regime der Familie Isakowitz die Ausreise nach London, wenn auch mit großen finanziellen Verlusten. Der Besitz, den sie mitnehmen durften – u.a. Erichs Laborausstattung und „Das Malerleben“ –, wurde per Schiff verfrachtet.
1936 ließen sich Erich und Sofie in einem Stadtteil im Nordwesten Londons nieder und sollten Deutschland nie wieder sehen. Sofie starb 1951, Erich 1979. Im August 1985 fuhr Lore mit ihrem Mann Harry Petzal, mir und meinem Bruder Peter nach Dresden. Es war ein in jeder Hinsicht traumatischer Besuch, der meine Mutter völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Hochgradig nervös und erregt, starb sie im darauf folgenden Jahr.
Der Abwurf von Spreng- und Brandbomben auf Dresden durch die britische und amerikanische Luftflotte am 13. und 14. Februar 1945 und der dadurch ausgelöste Feuersturm gehören nach wie vor zu den umstrittensten Aktionen in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Zweifellos kamen weniger Zivilisten ums Leben als bei vielen Luftangriffen auf andere deutsche Städte, und auch die Schäden waren weniger gravierend. Andererseits riefen die Zerstörung einer Stadt von derart unvergleichlicher kultureller Pracht und die fragwürdige Strategie, dadurch das Kriegsende herbeizuführen, auf Seiten der Alliierten später beträchtliches Unbehagen hervor. Wie der britische Historiker Frederick Taylor schrieb: „Die Zerstörung Dresdens hat eine ausgesprochen tragische Qualität. Sie war eine unglaublich schöne Stadt, ein Symbol des barocken Humanismus und der besten Eigenschaften Deutschlands. Doch während des Faschismus zeigte sie auch die abscheulichsten Eigenschaften Deutschlands. So gesehen kann Dresden als exemplarische Tragödie für das Grauen des Kriegs im 20. Jahrhundert und als Symbol der Zerstörung gelten.“
Schuldzuweisungen folgten auf den Fuß, auch heute noch werden allen voran Premierminister Churchill, Sir Charles Portal, Chef des Luftstabs, und Sir Arthur Harris, bekannt als Bomber-Harris, für die Luftangriffe verantwortlich gemacht. Die Erhebung zum Peer lehnte Harris ab mit dem Verweis darauf, dass dem RAF Bomber Command eine Medaille versagt wurde. Das Bomber Command hatte im Zweiten Weltkrieg die höchste Verlustquote von allen britischen Einheiten, 55.573 der insgesamt 125.000 Männer kamen ums Leben. Trotz heftiger Proteste wurde 2012 im St. James Park ein Denkmal für das Bomber Command eingeweiht.
Heute ist Dresden eine sehr widersprüchliche Stadt. Mit den vielen eindrucksvoll wieder aufgebauten Schlössern, Museen und Kirchen im Zentrum ist sie ein Magnet für Technik, Musik und bildende Kunst. Aber sie ist auch eine Stadt mit seelenlosen Sozialwohnungen aus DDR-Zeiten, wo eine zunehmend unzufriedene und fremdenfeindliche Unterschicht lebt. Diese Viertel sind ein fruchtbarer Nährboden für die Neonazi-Bewegung, die in Dresden einige ihrer größten Demonstrationen seit der Wiedervereinigung abgehalten hat. Die jährliche Gedenkfeier anlässlich der Luftangriffe nutzen einerseits die extreme Rechte für Demonstrationen, andererseits die Linken und Studenten für Gegendemonstrationen, was unweigerlich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt. Es hat etwas erschreckend ironisches zu sehen, wie anno 2013 auf den Straßen Dresdens deutsche Polizisten in Kampfausrüstung mit Schlagstöcken gegen schwarz gekleidete Neonazis vorgehen.
Translated from the English by Ursula Wulfekamp